Pro und Contra Video-Interview

schillingnews flash 1 | 2021 – Video-Interviews sind kein gleichwertiger Ersatz für das persönliche, physische Bewerbungsgespräch. Doch sie bieten signifikante Vorteile, mit denen sie sich im Standardrepertoire des Auswahlprozesses etablieren. Wir gehen davon aus, dass in Zukunft nur noch Personen zum persönlichen Gespräch eingeladen werden, die man zuvor schon im Video-Interview gesehen hat.

Eine professionelle Umgebung ist wichtiger Erfolgsfaktor
für Video-Interviews

Eine verordnete Feldstudie zu Video-Interviews

Am 13. März 2020 verfügte der Bundesrat in der Schweiz einen Lockdown mit weitgehender Kontaktsperre zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Weltweit wurden ähnliche Massnahmen getroffen. Die Suche nach Führungskräften lief bei schillingpartners unvermindert weiter und das Geschäft konnte sogar weiterwachsen. Doch sämtliche Interaktionen wurden von einem Tag auf den anderen über Video geführt, so wie es für viele Menschen im Homeoffice zur neuen Gewohnheit wurde. Der bisher eher sporadische Einsatz von Video-Interviews wurde während der Covid-19 Einschränkungen zum Standard.

«Erstgespräche werden zukünftig nur noch per Video geführt»

Damit sind persönliche, interaktive Gespräche zwischen einer Kandidatin bzw. einem Kandidaten und einem Executive Search Consultant gemeint, welche über eine Video-Plattform wie Zoom, Teams, Skype oder ähnliche geführt werden und in der Regel rund 60-90 Minuten dauern. Unsere Organisation führt pro Jahr etwa 1‘000 solcher strukturierten Interviews, in denen die Funktion im Detail besprochen wird und die Passung der Kandidatin/des Kandidaten für eine zu besetzende Führungsposition hinterfragt wird. Diese Gespräche wurden vor März 2020 in der Regel in unserem Büro in Zürich geführt, während des Lockdowns jedoch per Video. Für unsere Kunden wurden Video-Interviews ebenfalls zum Standard. In einigen Fällen war ein physisches Treffen unmöglich und die Gespräche zur Anstellung wurden ausschliesslich per Video geführt.

Die Rahmenbedingungen boten eine gute Gelegenheit, um Video-Interviews im breiten Einsatz zu erproben und ihre Vor- und Nachteile gegenüber dem physischen Interview zu studieren. Uns ist aktuell kein einziger Fall bekannt, in dem unsere Kunden eine Besetzung aufgeschoben hätten – im Gegenteil sie fanden kreative Lösungen, um die Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Ebenso ist uns kein einziger Fall bekannt, in dem man im Nachhinein eine Fehlbesetzung auf die Einschränkungen im Auswahlprozess zurückgeführt hätte. Die Akzeptanz sowohl bei unseren Kandidatinnen und Kandidaten sowie unseren Kundinnen und Kunden war von Beginn an sehr hoch.

Mit Flexibilität und Kreativität Entscheide herbeigeführt

Die Leichtigkeit, mit der Video-Gespräche vereinbart werden konnten und die vereinfachte Logistik führte zu einer höheren Anzahl und Frequenz von Gesprächen. Bei unseren Kunden, welche ihren Auswahlprozess ebenso wie wir auf Video-Interviews umstellten, wurde die Möglichkeit genutzt, einen breiteren Kreis in den Evaluationsprozess einzubeziehen. Beispielsweise in der Besetzung eines Global Head of Sales für ein Chemieunternehmen. Die Selektionsgespräche führten nicht nur der CEO mit dem Head of HR, sondern auch weitere Geschäftsleitungsmitglieder. Doch damit nicht genug, auch zwei Partner des Private Equity Investors wurden mit eingebunden, die man in einem rein physischen Prozess wohl nicht extra eingeflogen hätte. Ebenso verhielt es sich in der Besetzung eines Chief Risk Officers für ein Energieunternehmen – hier wurden sämtliche relevante Stakeholder in Video-Interviews beteiligt, die mit dieser Querschnittsfunktion in Zukunft interagieren werden. Durch zusätzliche Gespräche aus unterschiedlichen Perspektiven wurden so Entscheide robuster gestaltet.

Die Möglichkeit einer engeren Taktung ermöglichte in vielen Fällen auch eine Beschleunigung des Besetzungsprozesses. Im Fall eines grossen Logistikkonzerns konnte unserer Standardprozess von 10-12 Wochen auf 6 Wochen reduziert werden, vom ersten Briefing über die Recherche, Ansprache, Auswahlinterviews, Assessment bis zum Vertragsabschluss. Ein Kandidat in einem anderen Fall wollte den Prozess abbrechen, weil ihm bereits ein Vertragsangebot eines anderen Unternehmens vorlag. In einer konzertierten Aktion wurden die Video-Interviews mit 7 beteiligten Entscheidern kurzerhand über das Pfingstwochenende geführt, der Kandidat erhielt den Vertragsentwurf am Dienstag nach Pfingsten und sagte am Mittwoch bereits verbindlich zu.

Generell zeigten unsere Kunden hohe Flexibilität und Kreativität, um Entscheide auch unter Einschränkungen zu ermöglichen. Der CEO eines Energieunternehmens entschied kurzerhand, seinen Wunschkandidaten in Deutschland aufzusuchen, wenn dieser nicht zu ihm in die Schweiz reisen dürfe. In einem Büro nahe der deutsch-schweizerischen Grenze begegneten sich beide zum ersten Mal physisch.

Beide fuhren mit einem unterzeichneten Vertrag nach Hause.

«Engere Taktung ermöglicht eine Beschleunigung des Besetzungsprozesses»

Der neue Standard auf Video-Interviews führte in Einzelfällen auch dazu, dass Kandidaten in Betracht gezogen wurden, die man sonst schon allein wegen der komplexen Logistik ausgeschlossen hätte. So setzte sich in einem Besetzungsprozess ein Expat durch, welcher sämtliche Gespräche von Mexico aus führte, aber ein paar Monate später seine neue Position in Basel antrat.

Vor- und Nachteile von Video-Interviews

Vor- und Nachteile von Video-Interviews

Die strukturierte Auswertung der geführten Video-Interviews im Zeitraum von März 2020 bis Juni 2021 zeigen die Vor- und Nachteile im Vergleich zu physischen Auswahlgesprächen auf.
Grundsätzlich transportiert das Video-Interview weniger Informationen. Alle Sinneseindrücke reduzieren sich auf das gesprochene Wort und die Mimik dazu, etwas reduziert auch die Gestik. Wichtige sonstige Persönlichkeitsmerkmale können nicht oder nur eingeschränkt beobachtet werden, z.B. Präsenz, Körpersprache, Umgangsformen, Dynamik/Interaktion im Gruppengespräch, aktives Zuhören, etc. Andererseits ermöglicht gerade diese Reduktion eine Konzentration auf die Inhalte. Das gesprochene Wort, die Ausführung von Erfahrungen und Leistungsausweisen steht im Vordergrund und ist weniger überlagert von Faktoren wie Auftritt, Kleidung, Körpergeruch etc. Damit ist das Video-Interview potenziell geeignet, den sogenannten Halo-Effekt zu reduzieren. Der Halo-Effekt ist eine verbreitete kognitive Verzerrung, bei der einer Person positive Eigenschaften aufgrund von Sympathiemerkmalen zugeschrieben werden. Selbstverständlich gilt es, jegliche Verzerrungen im Entscheidungsprozess zu vermeiden.

«Das Video-Interview kann den Halo-Effekt reduzieren»

Auch wenn Video-Kommunikation in den vergangenen Monaten grosse Fortschritte gemacht hat und die meisten unserer Kundinnen und Kunden, Kandidatinnen und Kandidaten über die geeignete technische Ausstattung verfügen, stören technische Unzulänglichkeiten den Redefluss und die Verständlichkeit. Im Gegensatz zu physischen Gesprächen ist die Beobachtungszeit auf das reine Interview beschränkt, das heisst es gibt keine Möglichkeit zum Austausch in Nebengesprächen, z.B. in der Empfangshalle, auf dem Weg durch das Büro, in der zufälligen Begegnung am Kaffeeautomaten und weiteren sozialen Interaktionen, die wertvollen Aufschluss geben können.

Gleichzeitig ergibt sich einer der grössten Vorteile aus der Reduktion des logistischen Aufwands und der sonstigen Rüstzeiten, was zu einer engeren Taktung und Gespräche mit mehr involvierten Personen führt:
• die Prüfung zusätzlicher Kandidatinnen und Kandidaten, die vielleicht vorschnell oder wegen komplexer Logistik ausgeschlossen würden,
• die Einbindung zusätzlicher Urteilspersonen, die eine zusätzliche Perspektive bieten können,
• die Organisation zusätzlicher Interaktion zur Klärung von Fragen oder zusätzlichen Aspekten.


Ein weiterer Vorteil kommt insbesondere bei der Führung von Gesprächen in grösseren Gruppen zum Tragen, zum Beispiel wenn Nominationsausschüsse involviert sind. Das Gespräch per Video erfordert i.d.R. eine bessere Vorbereitung und stringent gesteuerte Durchführung, weil Sprechpausen, gegenseitige Unterbrechungen und Leerlauf als besonders störend empfunden werden. Durch den Einsatz eines strukturierten Gesprächsleitfadens werden die Bewertungen der Gespräche zudem besser vergleichbar und damit Entscheide wiederum robuster.

Schliesslich sind Video-Interviews ökonomisch und ökologisch sinnvoll durch einen sparsamen Ressourceneinsatz.

Mit Struktur und Planung zum erfolgreichen Entscheid

Mit Struktur und Planung zum erfolgreichen Entscheid

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Auswertung der Vor- und Nachteile ergeben sich für den Einsatz von Video-Interviews die folgenden Erfolgsfaktoren:
• Abstimmung eines strukturierten Interviewplans zu Beginn des Rekrutierungsprozesses mit Art der eingesetzten Interviews (digital, telefonisch, Video, vor Ort, Lunch, etc.), beteiligte Personen, Taktung. Der Einsatz von Video-Interviews ist i.d.R. ratsam für einen Teil der Interaktion.
• Das Format je Interviewphase sollte für sämtliche Kandidaten gleich sein, um eine angemessene Vergleichbarkeit zu erhalten.
• Gute inhaltliche Vorbereitung, d.h. Festlegung Teilnehmer, Dauer, Fragebogen/ Gesprächsleitfaden, Themenschwerpunkte je Interview und zu prüfende Elemente, Bewertungsmassstab.
• Mehrere Interviewer bilden sich möglichst unabhängig voneinander eine Meinung und halten ihre Ergebnisse vor der Diskussion schriftlich fest.
• Organisation eines professionellen Gesprächs durch Einsatz erprobter Technik, Bildausschnitt mit vollständigem Oberkörper für sichtbaren Gesteneinsatz, neutraler und heller Hintergrund, professionelle Kleidung, ruhige Atmosphäre, ordentliche Beleuchtung etc.
• Nutzung „Screen-Sharing-Funktion“ zur Veranschaulichung eines Organigramms, Demonstration von Fotos des Firmengeländes, Präsentation von Fallstudien, etc.

Zusammenfassung und Empfehlung

Video-Interviews sind während der Covid-19 Kontaktsperre zu einem Standard geworden. Der erzwungene, breite Einsatz hat zu einer wertvollen Erprobungsphase geführt, die der längst vorhandenen Technik zu einem Durchbruch verholfen hat. Auch ohne Kontakteinschränkung und auch in Fällen, wo der logistische Aufwand vergleichsweise gering ist, sollten Video-Interviews für einen Teil des Auswahlprozesses eingesetzt werden. Sie ermöglichen effiziente und robuste Entscheidungen. Die technischen Möglichkeiten sollten gezielt für die Einbindung relevanter Entscheider, fokussierte Interview-Themen und eine optimale Meeting-Dynamik genutzt werden. Durch die breitere Einbindung von relevanten Personen im Entscheidungsprozess kann dies auch die Qualität der Entscheidung steigern. Im Executive Search Prozess ergänzen Video-Interviews sinnvoll das Studium der schriftlichen Bewerbungsunterlagen, den telefonischen Austausch und schliesslich die physische Begegnung. Sie sind eine Ergänzung und kein vollständiger Ersatz. Dabei bilden sie eine gute Möglichkeit, um die Bewertung subjektiver Persönlichkeitsmerkmale auf das Ende des Auswahlprozesses zu verschieben. Besonders subjektive Faktoren wie Präsenz, Auftritt, Manieren etc. sind durchaus relevant, können aber so getrennt von der fachlichen Qualifikation bewertet werden.